Der #Bundesgerichtshof (#BGH) hat am 28.06.2022 eine weitere bemerkenswerte Entscheidung zur straflosen #Beihilfe zum #Suizid gefällt (Az.: 6 StR 68/21), und zwar für den Fall des Angewiesenseins der sterbewilligen Person auf unmittelbar zum #Tod führende Handlungen durch eine andere Person. Er stellt völlig zu Recht klar, dass sich der #Sterbewillige mit fremder Hilfe selbst tötet, wenn er bis zuletzt die freie Entscheidung über sein Schicksal behält. Dabei kann die #Ursachenkette auch von der anderen Person bewirkt werden, wenn dem #Suizidenten nach deren #Tatbeitrag die volle Freiheit verbleibt, sich dessen Auswirkungen zu entziehen oder sie zu beenden, um eine straflose #Beihilfe zur #Selbsttötung bei normativer Betrachtung zu bejahen. Maßgeblich ist zunächst der #Tatplan. Bei mehreren lebensbeendenden Handlungen durch unterschiedliche Akteure (#Suizident, #Gehilfe oder #Täter) kommt es auf die Frage einer Einheitlichkeit des zum Tode führenden Geschehens an. Entscheidend ist, wer es letztlich beherrscht.
Isolierte Bewertungen des aktiven Tuns der #Gehilfen oder #Täter verbieten sich angesichts eines auf die Herbeiführung des Todes gerichteten Gesamtplans. Den Besonderheiten des jeweiligen Einzelfalles ist Rechnung zu tragen. Wenn die #Suizidentin oder der #Suizident bei #Bewusstsein ist und eigenverantwortlich davon absieht, Gegenmaßnahmen wie z.B. die Äußerung der Bitte, den #Rettungsdienst zu alarmieren, zu treffen, hat sie oder er die freie #Entscheidungsgewalt über das eigene Schicksal.
Ob sich der entschiedene #Insulin-Fall wirklich maßgebend vom #Gisela-Fall (Urteil vom 14.08.1963 – 2 StR 181/63), mit dem auch der #Gashahn-Fall (Urteil vom 27.08.1920 – 905/20 II, JW 1921, 579) des #Reichsgerichts (#RG) revidiert worden war, unterscheidet, erschließt sich allerdings erst auf den zweiten Blick. In der Tat war hier – anders als in dem aktuellen #Insulin-Fall – der aktive Beitrag des Täters einer Tötung auf Verlangen während des Zeitraums, in dem sich die #Suizidentin hätte retten können, noch nicht abgeschlossen. Danach muss es die #Suizidentin weiterhin in der Hand behalten können, ob sie #sterben möchte oder nicht, um der assistierenden Person Straffreiheit zu garantieren.
Der #BGH betont neuerlich das verfassungsrechtlich verbürgte Recht auf selbstbestimmtes #Sterben, obschon es vorliegend nicht entscheidungsrelevant war. Er neigt ferner ausdrücklich dazu, die vom #Bundesverfassungsgericht (#BVerfG) zu § 217 Abs. 1 StGB entwickelten Grundsätze (vgl. BVerfGE 153, 182) auf § 216 Abs. 1 StGB zu übertragen und letzteren verfassungskonform auszulegen. Danach müssen jedenfalls diejenigen Fälle vom Anwendungsbereich der Norm ausgenommen werden, in denen es einer sterbewilligen Person faktisch unmöglich ist, ihre frei von Willensmängeln getroffene Entscheidung, aus dem Leben zu scheiden, selbst umzusetzen. Wenn sie darauf angewiesen ist, dass eine andere Person die unmittelbar zum #Tod führende Handlung ausführt, darf dies nicht eine Konterkarierung des ohne Wissens- und Verantwortungsdefizit frei gefassten und erklärten Sterbewillens nach sich ziehen.
Dieser suspendiert nämlich die #Einstandspflicht (#Garantenpflicht) zwischen Ehegatten, in einer Wohn- und #Lebensgemeinschaft oder in einem #Arzt-#Patienten-Verhältnis. Eine #Ärztin oder ein #Arzt muss #Leib und #Leben seiner #Patientinnen und #Patienten dann nicht schützen, wenn sie ihren #Sterbewunsch klar äußern und ausschließlich um Begleitung im #Sterben bitten.
Das #Selbstbestimmungsrecht gewährleistet die Freiheit, überlebenswichtige #Heilbehandlungen abzulehnen und dergestalt über das eigene Leben zu verfügen. Der diesbezügliche Wille ist selbst nach Eintritt der #Bewusstlosigkeit beachtlich, wenn er ohne Wissens- oder Verantwortlichkeitsdefizit frei gebildet und umgesetzt wird. Selbstverständlich dürfen sich später keine Hinweise auf eine Änderung des Sterbewillens ergeben. Dieser Wille ist auch im Fall des Eintretens pathologischer Zustände im Verlauf eines Suizides beachtlich. Einer Garantenstellung wegen gefährdenden Vorverhaltens (#Ingerenz) wie das Reichen oder Injizieren von Medikamenten stehen freiverantwortliche Entscheidungen der #Suizidenten entgegen. Diese beinhalten die Risikoübernahme für das gefährdende Vorverhalten.
Eine Strafbarkeit wegen unterlassener #Hilfeleistung (§ 323c Abs. 1 StGB) scheidet in derartigen Fällen aus, weil eine solche den #Sterbewunsch nicht respektieren würde und daher unzumutbar wäre.